Tschernobyl-Zeitzeuge zu Gast am „Goethe“

Tschernobyl-Zeitzeuge zu Gast am „Goethe“

Im Rahmen der Europäischen Aktionswochen „Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ kam der Zeitzeuge Anatolij Gubarew zusammen mit einer Übersetzerin Emma Agnischock sowie Reinhard Jansing von der Initiative „Den Kindern von Tschernobyl" zu einer rund zweistündigen Veranstaltung an das Goethe-Gymnasium.

Der 1960 in der Ukraine geborene Gubarew trat an der Europaschule erstmals als Referent auf, um den ca. 40 Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe E von seiner Tätigkeit als sogenannter Liquidator bei der atomaren Katastrophe in Tschernobyl zu berichten. Der damalige Ingenieur in einer Werkzeugmaschinenfabrik wurde im Mai 1986 herangezogen, um als Angehöriger des Charkiwer Feuerbataillons Löscharbeiten in unmittelbarer Nähe des dritten und vierten Blocks des Reaktors durchzuführen. Durch amerikanische und britische Sender waren zwar Informationen zum Supergau am 26. April 1886 durchgesickert, aber er wusste nicht, was ihn und weitere 300 Männer an Risiken erwartete. Auf Nachfrage der Schülerin Alissa, die den Zeitzeugen auf Russisch ansprach, erläuterte er, dass sie nur eine unzureichende Schutzkleidung trugen und ihnen wegen der fehlenden Transparenz seitens des totalitären Regimes auch die Todesgefahr, in der sich die Einsatzkommandos befanden, nicht bewusst war. So gehörte das Abspülen von Häusern, die in Wirklichkeit längst radioaktiv verstrahlt waren und später abgerissen wurden, sowie das Abpumpen von radioaktiv verseuchten Wasserbehältern zu seinen ersten Aufgaben. Da schnell viele Liquidatoren krank wurden, musste er wegen fehlenden Ersatzes bis Juni dort bleiben. Ende der 80er Jahre stellten sich die ersten gesundheitlichen Probleme ein. In Deutschland wurde ihm schließlich ein Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der Tschernobyl-Katastrophe bestätigt, was in Charkiw lange geleugnet wurde. Auch deshalb setzt er sich durch die Gründung einer zivilgesellschaftlichen Organisation bis heute für die Liquidatoren und ihre Angehörigen ein. „Von den 19500 Liquidatoren lebten 2022 noch 9000; davon waren 6000 Invaliden.“ Jansing lieferte anhand zweier Filme weitere Hintergrundinformationen und erläuterte den Jugendlichen die verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen der massiven Freisetzung von Radioaktivität. Anhand von anschaulichen Zahlen machte er deutlich, welche langfristigen Folgen beispielsweise die wichtigsten Spaltprodukte wie Cäsium 137 und Plutonium 239 im Falle einer Atomkatastrophe auch für spätere Generationen haben. Im Anschluss an die Vorträge stellten die aufmerksamen Schülerinnen und Schüler viele weitere Fragen, die sich auch auf die aktuelle Politik bezogen. So wollten sie wissen, wie Gubarew dazu steht, dass in Deutschland die Atomkraftwerke im April abgeschaltet wurden.

Michael Kosler, Koordinator der Gesellschaftswissenschaften am Goethe-Gymnasium, dankte Gubarew und Jansing für die wertvolle „Aufklärungsarbeit“ und wandte sich mit einem eindringlichen Appell an seine Schülerinnen und Schüler, die sich in den Fächern Geographie und Sozialwissenschaften mit dem Atomausstieg, der Energiewende und dem Klimaschutz beschäftigt haben: „Die Reaktorkatastrophe im Jahr 1986 erscheint euch vielleicht auf den ersten Blick weit weg, aber es betrifft euch auch heute noch. Die Nachwirkungen von Tschernobyl und Fukushima werden gesellschaftlich zu wenig thematisiert.“ Der Rückblick auf die Atomkatastrophe mit einem Zeitzeugen bietet den Jugendlichen auch in den nächsten Unterrichtsstunden noch nachdenklichen Gesprächsstoff.

Kerstin Hannemann